Aller Anfang ist schwer

 

Offiziell heiße ich Leo vom Brauhausberg. Ich bin ein französischer Hirtenhund und habe blondes, langes Fell. Alle sagen, ich sei wunderschön. Mir ist das egal. Hauptsache meine Menschenfamilie ist bei mir und lässt mich nicht zu lang allein. Ich liebe sie über alles, obwohl sie am Anfang nicht verstanden, was gut für mich ist. Als ich vier Wochen alt war, kamen ständig Leute, um mich und meine Geschwister zu begutachten. Ich blieb schüchtern im Hintergrund. Vor einiger Zeit hatte sich ein Paar bei der Züchterin vorgestellt. Ich mochte die Frau sofort. Sie ließ meine wilde Schwester, die sich dauernd in den Vordergrund spielt, links liegen und lockte mich herbei. An diesem Tag war ich kühn und mutig genug, um mich von meinem Beobachtungsposten zu lösen. Ich stieß Lilly zur Seite. Die Hand der Frau roch gut. Ich saugte ein bisschen an einem ihrer Finger. Sie ließ es geschehen. Der Mann lachte und fragte seine Frau „Wollen wir uns für den putzigen Kerl entscheiden?“ „Ja, der soll es sein.“ Sie durfte mich auf den Arm nehmen. Ich fühlte mich wunderbar wohl und geborgen, dass ich ein Bächlein laufen ließ. Die Frau setzte mich zurück in die Welpenkiste und ich versteckte mich unter Mamas Fell. Zum Glück war niemand böse mit mir.

Nach ein paar Wochen durften wir nur noch selten an Mamas Zitzen. Meine Geschwister gingen mir auf die Nerven. Lilly, Lobo und Leon wollten rund um die Uhr spielen und ständig raufen. Dabei zog ich immer den Kürzeren. Ich sehnte mich nach Ruhe und jemanden, der sich um mich sorgt.

Nun stand das nette Paar wieder vor mir. „Wollen sie mich abholen oder nehmen sie ein anderes Geschwisterchen mit zu sich nach Haus“, fragte ich mich mit heftig klopfendem Herzen. Die Züchterin kam auf mich zu, nahm mich auf den Arm, und setzte mich auf den Schoß der Frau. Mein Hundeherz hüpfte vor Freude. Ungestüm begann ich das Gesicht meiner neuen Besitzerin abzulecken. Diese hatte im Fond des Autos Platz genommen. Noch wusste ich nicht, was Autofahren bedeutet. Die Züchterin winkte und verdrückte eine Träne. Dabei war ich für sie nur einer von zehn kleinen Hunden. Das Auto setzte sich in Bewegung. Der Mann fuhr nicht schnell, aber mir wurde schon nach kurzer Zeit speiübel. Beim Rausschauen drehte sich alles um mich herum. „Ludwig, fahr langsamer oder halt am besten an. Ich glaub, unser Hundekind muss gleich kotzen.“

Sie hatte es erkannt. Schon brach ein Schwall nicht verdautes Trockenfutter aus mir heraus auf ihren schneeweißen Pullover. Erstaunlicherweise schimpfte Gerda nicht. Ich durfte mich draußen auf einer grünen Wiese erholen. Nach einer Weile ging die Fahrt weiter. Ich hoffte inständig, dass es die erste und letzte Autofahrt in meinem Leben sein würde. Wie naiv ich war. Endlich angekommen, trug man mich eine steile Treppe hinauf. Todmüde schleppte ich mich durch den Garten, ließ mich unterhalb der Terrasse auf den Rasen plumpsen und schlief auf der Stelle ein.

Als ich wach wurde, saß Ludwig neben mir und streichelte mich. Gerda kam dazu und sprach mich an. „Du heißt jetzt Oskar. Wir nennen dich so, weil ich früher eine Plüschkatze hatte, die so hieß. Ein anderes Kind hat sie mir gestohlen. Jetzt hab ich wieder einen lieben Oskar, nicht wahr,“ Gerda schaute mir tief in die Augen und kraulte meine Ohren. „Von mir aus. Ihr könnt mich nennen wie ihr wollt. Hauptsache ich muss nie mehr Autofahren,“ dachte ich und wedelte mit dem Schwanz.

Die erste Nacht bei Ludwig und Gerda verlief ruhig. Wir schliefen alle drei im Wohnzimmer. Meine Menschen lagen auf Matratzen, ich zwischen ihnen auf dem Boden. Nach drei Nächten in vertrauensvoller Dreisamkeit sah ich, wie die beiden ihre Matratzen in die obere Etage zurücktransportierten. Ich schaute sie fragend an. „Wollen wir ab heute alle oben schlafen? Ich weiß nicht, ob ich die Treppe alleine schaffe. Ich hoffe, ihr tragt mich hoch“. Sie platzierten mein Körbchen samt meinem Spielkram unter die Treppe. „Das kann nicht euer Ernst sein. Dort bleibe ich nicht. Ich will bei euch sein. Versteht ihr nicht? Ich muss euch riechen, sonst bekomme ich Angst“.

Meine schlimmsten Befürchtungen trafen ein. Am späten Abend, ich hatte bereits zwei Stunden vor dem Kamin im Wohnzimmer geschlafen, trug Gerda mich ins Treppenhaus und setzte mich im Körbchen ab. „Das ist jetzt dein Schlafplatz, Oskar. Wir möchten nicht, dass du die obere Etage betrittst, vor allem nicht unser Schlafzimmer. Das Eckchen ist gemütlich. Du wirst dich daran gewöhnen“. Ich hätte nie gedacht, dass Gerda so hart und unerbittlich sein könnte. Ludwig sah unglücklich aus. Ich war verzweifelt. Schon bevor sie die erste Stufe betraten, um nach oben zu verschwinden, bellte ich so laut ich konnte. Gerda sprach beruhigend auf mich ein. Ich hielt kurz inne. Ludwig ging allein nach oben. Als Gerda ihm folgte, begann ich zu winseln und zu heulen wie ein Wolf, immer lauter bis mein Gejaule Gerda wieder die Treppe hinunter trieb.

Nacht für Nacht kam Gerda zu mir, setzte sich auf die unterste Treppenstufe und sprach beruhigend auf mich ein, bis ich auf dem nackten Boden liegend einschlummerte. Das Körbchen ignorierte ich. Manchmal versuchte ich im Wohnzimmer zur Ruhe zu kommen. Meistens vergeblich. Ich wanderte durch das untere Stockwerk und sehnte mich nach meinen Menschen. Jedes Geräusch wie das Knacken und Ächzen der Holzdielen flößte mir Furcht ein. Ich fühlte mich von der ganzen Welt verlassen. Eines Nachts stellte ich bei meinen Rundgängen durch das Erdgeschoss fest, dass die Tür zum Arbeitszimmer offen stand. Eine Jacke, die herrlich nach Ludwig duftete, hing über der Stuhllehne. Mit spitzen Zähnen zog ich die Jacke von der Lehne, sprang auf das Sofa und kuschelte mich in Ludwigs Kleidungsstück.

Am nächsten Morgen erwachte ich erst, als Gerda den Kopf durch die Tür steckte. „Ach hier bist du, Oskar. Wir haben dich gesucht. Was hast du denn mit Ludwigs Jacke gemacht?“ Ich hatte ein bisschen darauf rumgekaut und einige Löcher fabriziert. Gerda schimpfte zum Glück nicht.

Ein paar Wochen schlief ich nun im Arbeitszimmer, Ludwigs Jacke ganz nah an meiner Schnauze. Eines Tages packte Gerda Kleidung in einen Koffer und verabschiedete sich von Ludwig und mir. Ich begann schon in Panik zu verfallen, doch Ludwig beruhigte mich und versprach bei mir zu bleiben. Als er abends im Schlafzimmer verschwand, wollte ich mich nicht mit seiner Jacke im Arbeitszimmer zufriedengeben. Abwechselnd bellte und jaulte ich am Fuße der Treppe, sodass mein Mensch nach kurzer Zeit wieder auf der Bildfläche erschien.

„Mensch Oskar, jetzt gib Ruh. Ich muss morgen arbeiten und kann mich nicht die ganze Nacht um dich kümmern. Dann komm halt mit ins Schlafzimmer“. Das musste er nicht zweimal sagen. Inzwischen war ich groß genug, um die Treppe zu packen. So schnell wie der Wind eilte ich hinauf und legte mich neben das breite Bett auf den Boden. Am liebsten wäre ich hineingesprungen, aber das getraute ich mich nicht.

Von diesem Tag an durfte ich jede Nacht bei Ludwig im Schlafzimmer sein. Zu meiner großen Freude, kam Gerda nach einer Woche zurück. Endlich war das Rudel wieder komplett. Meine Menschen verbrachten den Abend auf dem Sofa. Sie hatten sich viel zu erzählen. Ich lag ausgetobt, vollgefressen und glücklich vor dem Kamin. Zu später Stunde sagte Gerda: „Ich bin müde, lass uns ins Bett gehen“ und stand auf.

 

Das Wort „Bett“ war für mich das Startsignal. Ich sprang auf, rannte die Treppe rauf, lief durch die offen stehende Tür durch das Bad bis ins Schlafzimmer und warf mich auf meinen hart erkämpften Platz an Ludwigs Bettseite. „Was ist denn hier los?“ Gerda blickte Ludwig strafend an. „Ich konnte mich nicht wehren. Er hat die ganze Zeit geweint und gewinselt, manchmal auch gebellt. Jede Nacht. Hier oben bei uns ist er mucksmäuschenstill“.

Gerda rollte mit den Augen. „Der Hund hat uns voll im Griff“. Sie beugte sich zu mir hinunter. „Du musst mich nicht so flehend ansehen, Oskar. Du hast gewonnen“. Sie lächelte.