Die unheimliche Begegnung im Piemont

Heute war es endlich soweit. Mit Sack und Pack, Hund und einem Topf Wildschweingulasch, den die Nachbarin vor die Tür gestellt hatte, standen wir vor einem wunderschönen uralten Natursteinhaus, unserem wunderschönen uralten Natursteinhaus. Zuhause war jetzt hier. Oskar drängte sich, wie überall, als erster durch die Tür, um schnell in das kühle Haus zu gelangen. Sein langes dichtes ziegenhaarähnliches Fell mit fester Unterwolle machte ihm mal wieder zu schaffen. Mit einem tiefen Seufzer warf er sich unter den Küchentisch.
Die Küche: kein langer Schlauch mit Einbauzeile. Kein „amerikanischer Traum“ mit Hightechgeräten, sondern ein großer fast quadratischer Raum: Ein gemauerter Spülstein, Holzofenherd und Kamin, ein großen Tisch in der Mitte, Regale aus Kastanienholz an der Wand und als einziges Zugeständnis an die moderne Welt, ein knallgelber riesengroßer Kühlschrank.
Die Küche war der einzige Raum, den wir bewohnen konnten. Hier würden wir mindestens zwei Monate lang essen, schlafen, leben. In den alten Bauernhäusern der Gegend waren die Küchen früher das Lebenszentrum der Bewohner.
So wollten wir es auch halten, selbst wenn nach der Renovierung die anderen Zimmer neuen Glanz ausstrahlen würden.

Nachdem wir unsere Koffer, Taschen, Kisten und Kartons und eine Tüte mit Oskars geräucherten Schweineohren ausgeladen und im zukünftigen Wohnzimmer aufgetürmt hatten, fiel mir mit Entsetzen ein, dass ich unseren Picknickkorb für den ersten Abend auf dem letzten Rastplatz hatte stehen lassen. Wie blöd.
„ Wir haben doch das Wildschweingulasch der Nachbarin“, versuchte mich Ludwig
zu trösten. „Willst du das Gulasch ohne Nudeln, Kartoffeln oder Brot in dich hineinlöffeln? Und das am ersten Abend?, antwortete ich gereizt. „Nicht mal eine Flasche Wein zum Anstoßen auf die Zukunft haben wir im “.

Ich war wütend auf mich selbst und ließ meinen Ärger wie gewöhnlich an Ludwig aus.
Den Korb mit Lebensmitteln und Wein hatte ich neben den Wagen gestellt, um Oskars Wassernapf zwischen den Kartons herauszuzerren und später vergessen, ihn wieder einzuladen. Ludwig bringt so eine Nachlässigkeit nicht aus der Ruhe. Er hätte auch mit Leitungswasser auf unser neues Leben geprostet.

„Lass uns ins Dorf fahren und dort einkaufen. Morgen ist Sonntag und ich hab keine Lust das ganze Wochenende von Keksen und Wasser zu leben“.
„Wollen wir nicht erst auspacken?“ Ludwigs Gleichmut machte mich rasend. „Nein! Hast du mal auf die Uhr geschaut? Die Geschäfte schließen bald. Jetzt komm!“
Ludwig ließ sich stöhnend auf den Fahrersitz fallen. „Ich weiß, es ist meine Schuld“,
gab ich versöhnlich zu. „Das Dorf ist doch nicht weit. Wir sind gleich wieder zurück. Dann gibt es erst mal was zu essen und auspacken können wir morgen“.

Die Besitzerin des kleinen Ladens trug schon kistenweise Gemüse, das vor der Tür
in der Auslage stand, hinein und bediente uns unwillig. Mit meinen geringen Sprachkenntnissen versuchte ich ihr zu erklären, warum wir so kurz vor Ladenschluss noch einkaufen mussten. Als Ludwig sich mal wieder nicht für einen Wein entscheiden konnte, prasselte ein Redeschwall auf uns nieder,
dann tippte sie mit dem Zeigefinger erst auf ihre Armbanduhr dann nach draußen. Ich verstand kein Wort und war enttäuscht über das ziemlich unfreundliche Verhalten der Ladeninhaberin. Kaum hatten wir einen Fuß vor die Tür gesetzt, trat sie ebenfalls heraus, schloss den Laden ab und
rannte wie gehetztes Wild davon.
„Das fängt ja gut an“, Ludwig schüttelte den Kopf. Er startete den Wagen und im selben Augenblick ergoss sich ein Wolkenbruch über den kleinen Ort. Ein Unwetter brach los, wie ich es noch nie erlebt hatte.
Nun war auch klar, warum die Frau uns so schnell hatte loswerden wollen.
In wenigen Minuten stand die Dorfstraße unter Wasser. Uns blieb nichts anderes übrig, als darauf zu warten, dass die Wassermassen, die da vom Himmel stürzten, abebben würden.
Lange verharrten wir so, stumm vor Erstaunen über die Gewalt der Natur
bis der Regen irgendwann abrupt aufhörte. „Hat da jetzt jemand den Hahn zugedreht?“ fragte Ludwig und bewegte das Auto im Schritttempo Richtung Ortsausgang. „Warum warten wir nicht, bis das Wasser abgeflossen ist? Wir fahren ja wie auf Wasserski“. Mir war nicht wohl zumute. Das Auto schlingerte ohne
Bodenhaftung durch die seenartigen Pfützen. Ludwig ignorierte meine Angst und fuhr ohne ein Wort zu sagen einfach weiter.
Plötzlich aus dem Nichts heraus überfielen uns dicke zähe Nebelschwaden und überschwemmten das gesamte Tal wie eine hereinbrechende Flutwelle.
Es war inzwischen stockdunkel geworden. Nach kurzer Zeit hatten wir die Orientierung verloren. „Wir müssen irgendwann rechts abbiegen unterbrach ich unser Schweigen. Ludwig fuhr immer weiter. „Ludwig so finden wir nicht nach Haus, wieso funktioniert das Navi denn nicht? Dann müssen wir eben nach dem Weg fragen“, schlug ich pragmatisch vor. „Siehst du jemanden? Glaubst du bei dem Wetter treibt sich irgendwer draußen rum?“ Für einen Moment schien auch Ludwig ratlos zu sein.
„Schau mal, dort links das Licht. Ein Haus. Da können wir nach dem Weg fragen“.
Erleichtert bog Ludwig in den vom Regen aufgeweichten Sandweg ein. Kurz darauf standen wir vor einem langgestreckten Haus aus Natursteinen erbaut. Es sah fast aus wie unser Haus und ich musste an Oskar denken. Ob der wohl schon sein Wolfsgeheul angestimmt hatte, weil er so lange allein gelassen wurde?


Noch bevor wir anklopften, öffnete sich die Tür und eine Frau erschien, als hätte sie uns erwartet. Sie war sehr groß, fast so groß wie Ludwig. Die langen gelockten Haare fielen ihr ins Gesicht, sodass man die Augen kaum sehen konnte. Die Haare waren grau, obwohl das Gesicht, so wenig man auch davon erkennen konnte, nicht alt war. Keine Falte grub sich um den Mund oder die Nase. Die schwarze Kleidung
betonte die schlanke Figur. Sicher eine junge Witwe, dachte ich und schaute sie
mitfühlend an.

Als sie mit einer Kopfbewegung das Haar nach hinten warf, sah ich in ihre Augen. Ihr Blick ging durch mich hindurch, er war leer und ich erschauerte.
Ludwig fragte ganz unbefangen nach dem Weg, doch sie bat uns in die Küche einzutreten und bot uns Kuchen und Wein an. Ich wollte ablehnen, doch sie hatte Ludwig in ihren Bann gezogen. Mein sonst so stiller Ludwig erzählte von unserer Ankunft, dem Einkauf, dem Unwetter und schließlich unsere Lebensgeschichte.
Ich dagegen brachte kein Wort heraus und starrte unablässig die dunkle Frau an. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Sie war unheimlich. Nur ihre Stimme klang weich und melodisch, gar nicht unheimlich. Endlich taute ich aus meiner Erstarrung auf:
„Leben Sie hier allein?“ „Nein“, erwiderte sie lächelnd. Ludwig war aufgestanden und schaute sich um. Die Küche lag im Halbdunkel. Die verstaubte Glühbirne, die ohne Schirm von der Decke baumelte, spendete kaum Licht und die Kerze auf dem Tisch flackerte hin und her. Die Mauern waren von innen nicht verputzt. Ludwig strich sanft mit der Hand über die Steine. Die dunkle Frau lächelte erneut:


“ Unsere Häuser haben eine Seele. Sie bestehen aus Steinen und aus Fossilien, das sind versteinerte Lebewesen, die im Sandstein versiegelt wurden. Der Stein ist jedoch die eigentliche Seele des Hauses.
Er speichert die Stimmen und Geräusche der Bewohner. Zwischen den Steinen und Fossilien, in den Fugen leben seit ewig die Geister. Meistens sind es gute Geister. Sie bleiben auch in einsturzgefährdeten Ruinen, wenn die Bewohnen längst fortgezogen sind. Ihr dürft sie nicht vertreiben“.

Trotz ihrer freundlichen Art mit uns zu sprechen, fühlte ich mich nicht wohl. Zum Glück hatte sich der Nebel gelichtet. Wir bedankten uns für die Bewirtung, verabschiedeten uns und ließen uns noch einmal den Weg erklären. Sie schien genau zu wissen, wo sich unser Haus befand. Ludwig war begeistert von dieser Gastfreundschaft. „Wir können ja mal in den nächsten Tagen bei ihr vorbeischauen und ihr eine Flasche Wein bringen. Oder wir laden sie gleich zu uns ein. Ach, jetzt haben wir gar nicht nach ihrem Namen gefragt“.

Die dunkle Frau musste großen Eindruck auf ihn gemacht haben. "Wir müssen doch nicht gleich jeden einladen. Du bist doch sonst viel vorsichtiger mit neuen Bekanntschaften", warf ich ein.
Ludwig sagte eine Weile nichts. Dann murmelte er nachdenklich „Ich bin gerade dabei das zu ändern“.


Kurz bevor wir unser Haus erreichten, hörten wir Oskars Geheul, dass in freudiges Gebell überging, als Ludwig die Tür aufschloss. Ich war im Auto sitzen geblieben und suchte meine Handtasche. Plötzlich durchfuhr es mich wie ein Blitz. Ich hatte die Handtasche in der Küche der dunklen Frau über die Stuhllehne gehängt und dort vergessen. Im Geiste sah ich sie schon darin kramen und neugierig alles auseinander nehmen.
Sie würde die Fotos finden, die ich in einem Seitenfach aufbewahrte. Fotos von Ludwig und einer Frau. Sie küssten sich. Ich war Ludwig damals hinterher gefahren. Kurze Zeit später war die Affäre vorbei, ohne dass er bemerkt hatte, dass ich es wusste.
„Wir holen deine Tasche morgen“, sagte Ludwig ruhig ohne aus der Haut zu fahren, weil ich heute schon das zweite Mal etwas vergessen hatte. Er belud den Ofen mit Holzscheiten und wenig später wurde es warm, das Holz knisterte und es wäre sicher ein gemütlicher Abend geworden, wenn ich nicht ständig an die dunkle Frau hätte denken müssen.

Am nächsten Morgen brauchte ich gar nicht lange bitten und betteln. Ludwig war sofort
bereit noch vor dem Frühstück meine Tasche zu holen.
Oder ging es ihm gar nicht um die Tasche, sondern um die Frau? schoss es mir durch den Kopf.
Als wir wenig später erneut vor ihrem Haus standen, glaubten wir unseren Augen nicht zu trauen. Wir hatten es gleich wiedergefunden und waren uns sicher, dass es das Haus der dunklen Frau war.

Was war geschehen? Die Tür war verbarrikadiert, die Fensterscheiben zerschlagen oder mit Brettern zugenagelt, die Holzläden hingen an verrosteten Scharnieren herab. Viele Dachziegel lagen zertrümmert auf der Erde. Das Haus war eine Ruine. Wo war die Frau?

Wir klopften, doch es machte keiner auf. Auch auf unsere Rufe reagierte niemand.
Nicht weit entfernt bearbeitete ein Bauer sein Feld mit einem Traktor. Ludwig stapfte über das Feld und kam mit dem Bauern im Schlepptau zurück.

„Guten Tag, meine Dame“, begrüßte der Farmer mich höflich. „Ich habe schon ihrem Mann erklärt, dass sie nicht in diesem Haus gewesen sein können. Sie sehen es ja, es ist schon seit vielen Jahren unbewohnt. Keiner weiß wem es gehört“.
„Wir waren gestern Abend in diesem Haus. Ich bin ganz sicher.
Eine große Frau mit langem Haar und schwarzen Kleidern hat uns mit Kuchen und Wein bewirtet. Ich habe meine Handtasche vergessen. Es war hier!“
Der Bauer schaute skeptisch von mir zu Ludwig. Ludwig nickte mit dem Kopf und sagte: „Bitte holen Sie Hilfe, damit wir die Tür aufmachen können. Meine Frau braucht ihre Tasche. Es sind viele Wertsachen darin“.
Der Bauer schüttelte ungläubig den Kopf und ging ohne ein Wort zu sagen davon.
Nach einer Weile kam er in Begleitung  zweier Männern zurück. Sie entfernten die Bretter, die vor den Eingang genagelt waren und stemmten die Tür auf. Ludwig und ich traten ein. Keiner der Männer folgte uns. „Hallo, ist da jemand“, rief Ludwig in den dunklen Raum hinein. Keine Antwort.

Er tastete nach dem Lichtschalter, doch es gab keinen Strom. Wir hörten, dass die Männer die Bretter vor den Fenstern abschlugen. Als endlich Tageslicht in den Raum fiel, lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Auf dem Tisch mitten in der Küche standen zwei Weingläser und auf den zwei Tellern waren Kuchenkrümel. Über der Stuhllehne, auf dem ich gesessen hatte, hing meine Handtasche.

Ich schnappte mir die Tasche und rannte hinaus. Es fehlte nichts. Auch die Fotos lagen in richtiger Reihenfolge im richtigen Fach. „Es gibt keinen Zweifel", versicherte Ludwig, der plötzlich hinter mir stand. „Wir waren in diesem Haus. Wir und diese Frau“.
Die Dorfbewohner und der Bauer sahen sich bedeutsam an. „Dafür gibt es nur eine Erklärung “, sagte der Bauer. „Sie haben eine Masca getroffen“.

„Eine Masca?“ wiederholten Ludwig und ich gleichzeitig. “Was soll das sein?“
„Hexen, Waldgeister, Zauberinnen“, antwortete der Bauer. „Es gibt Mascen der Weinberge, welche die Brände verhüten, die Masca des armen Mannes, die der Jungfrau, die der Dörfer. Meistens treten sie als alte Frau auf“. „Sie war aber jung und schön, schwarz gekleidet und hat mit uns gesprochen, ganz natürlich. An Geister glaube ich nicht", unterbrach Ludwig die Ausführungen des Bauern, der unbeirrt fortfuhr:
“ Manchmal erscheinen sie auch als junge Witwe oder in Tiergestalt als
Ziege, Fledermaus oder Kaninchen. Natürlich ist es unmöglich eine Masca in flagranti zu erwischen. Sie verwandelt sich sofort in einen Busch oder in einen Stein.
"Worüber haben Sie denn gesprochen?“ „Wir haben ihr erzählt, dass wir ab jetzt hier leben werden und noch einmal ganz von vorn anfangen….mit allem. Unser Haus ist nicht weit entfernt. Sie kannte es. Sie hat von den alten Häusern und Steinen gesprochen, “ erklärte ich.
„Eine Weisheit dieser Gegend lautet: „Wenn sich dir eine Masca offenbart, dann befolge ihren Rat“, mit diesen Worten wandte sich der Bauer ab und verschloss die Fenster und die Tür. Die Männer grüßten und gingen davon.

„Ich hab ja geahnt, dass mit der Frau was nicht stimmt“, murmelte ich, als der Bauer gegangen war. „Du glaubst doch nicht etwa an diese Geistergeschichten“, höhnte Ludwig spöttisch. „Das sind nichts als Sagen und Legenden der Einheimischen. Schau dich doch mal um: Wie könnte es in einer so wenig bewohnten, romantischen Gegend anders sein? Die Menschen haben kaum Abwechslung, aber eine reiche Phantasie."

„Man darf sich aber nicht darüber lustig machen“, gab ich zu bedenken. „Hast du eine Erklärung für das, was geschehen ist?“ „Nein, hab ich nicht. Aber es wird sicherlich eine geben“.
So begannen wir ein neues Leben ohne je wieder über den ersten Abend zu sprechen. Nur manchmal, wenn die Natursteine unseres Hauses in der Sonne leuchten, muss ich an die dunkle Frau denken und bin froh, dass sie eine Masca war.