Schock in Siem Reap

Siem Reap liegt inmitten von Sumpflandschaften, nahe des größten asiatischen Sees, dem Tonle Sap. Das ehemals unscheinbare Städtchen wäre nie zu einer Berühmtheit geworden, wenn es den Angkor Wat nicht gäbe, eines der eindrucksvollsten UNESCO Weltkulturerbe, das größte Tempel Bauwerk der Erde.

 

Ein riesiges Bewässerungssystem im 10. Jahrhundert angelegt, hatte zu Wohlstand durch erfolgreichen Reisanbau geführt, denn man konnte mehrmals im Jahr ernten. Es gab Nahrung in Hülle und Fülle. Der im 12. Jahrhundert herrschende König Suryavarman II der Khmer beschloss, ein dem Gott Vishnu geweihtes Tempelareal zu errichten, welches größer, schöner, erhabener sein sollte, als alle vorherige.

 

Fast 40 Jahre dauerte der Bau dieses einzelnen Tempels. Mehr als 300000 Arbeiter, davon viele Sklaven sowie 6000 Elefanten wurden benötigt. Für die ganze Anlage wurden 400 Jahre gebraucht.

 

Rund um die Tempelanlagen siedelten sich Menschen an, sodass Angkor ein weitläufiges Ballungszentrum wurde, dem Wald abgerungen, verbunden durch ein Netzwerk aus Straßen, Kanälen, Stauseen. Es entstand die erste Großstadt der Welt mit geschätzt einer Million Einwohner.

 

Jede Blütezeit eines Volkes findet in der Geschichte der Menschheit irgendwann ihr Ende. Überbevölkerung und klimatische Veränderungen machten Angkor zu schaffen. Vielleicht trafen Herrscher falsche Entscheidungen. Auf Dürren folgten heftige Monsunniederschläge. Das Bewässerungssystem kollabierte. Schließlich führte eine militärische Invasion der Siamesen aus Ayutthaya zum Niedergang Angkors. Man weiß es nicht genau. Warum verließen die Khmer ihre unzerstörten Tempel im 15. Jahrhundert.

Als die ersten Europäer die Tempellandschaft im 17. Jahrhundert vorfanden, konnten sie nicht glauben, welche einzigartige von Menschen errichtete Anlage dem Verfall preisgegeben war.

Schon damals begannen nach und nach erste Restaurationsarbeiten.

Seitdem der Bürgerkrieg unter Pol Pott beendet wurde, strömen Touristen dorthin. Aus dem nur wenige Kilometer entfernten Siem Reap wurde aufgrund des einsetzenden Massentourismus eine Stadt von 250000 Einwohnern. Mehr als 2 Millionen Menschen jährlich wollen die Tempel wenigstens einmal in ihrem Leben sehen. Die ehemals mystisch-rätselhaften Anlagen, teils von riesigen Baumwurzeln der Würgefeigen überwuchert sind dem Ansturm längst nicht mehr gewachsen. Sie verfallen zusehends und die Natur erobert sich zurück, was mal ihr gehörte.

Zum Sonnenaufgang, zum Sonnenuntergang und die Zeit dazwischen: Überall klicken Selfie Sticks, herrscht Massenandrang, jagen Tausende nach dem besten Foto. Sollen wir uns das überhaupt antun?

 

Ich versuche tagelang im Netz herauszubekommen, welchen Tempel man zu welcher Uhrzeit besuchen sollte, um den Massen zu entgehen. Schwieriges Unterfangen. Ein Geschwader von Tuk-tuks startet jeden Morgen um 4 Uhr früh, damit die Touristen den Sonnenaufgang über dem Angkor erleben können. Anschließend bewegt sich der Strom lawinenartig durch die verschiedenen Tempel. Das muss anders gehen.

Wir beschließen die Tickets einen Tag vor dem geplanten Besuch am späten Nachmittag zu kaufen. Der für 24 Stunden gebuchte Tuk-tuk Fahrer bringt uns zum Ticketcenter, etwa 4km vom Stadtkern entfernt. Die Karten, die man ab 17 Uhr kaufen kann, gelten für den gesamten nächsten Tag. Der eigentliche Angkor Wat hat bis 18 Uhr geöffnet. Unser Fahrer weiß, dass wir es eilig haben.

Für kurze Zeit gehört uns die prächtige Tempelanlage fast allein. Es herrscht eine mystische Stimmung. Dunst legt sich über den Wassergraben, viele Garküchen packen entspannt ihre Sachen zusammen. Das Geschäft für heute ist gemacht.

Uns reicht diese knappe Stunde, um dem Tempel gebührenden Respekt zu zollen. Als sich die Tore gegen 18:30 schließen, müssen wir unseren Fahrer nicht lange suchen. Die wenigen verbliebenen Besucher lassen sich wie wir durch die kühle Abenddämmerung entlang der dschungelartigen Landschaft gen Stadt zurückfahren. Siem Reap erwacht nach der Hitze des Tages aus dem Dämmerschlaf. Hunde am Straßenrand dehnen ihre Körper, gähnen und machen sich bereit für einen Abendspaziergang. Wir tun es ihnen gleich.

 

 

Am nächsten Tag brechen wir erst am späten Vormittag auf. Der größte Teil der Touristen lässt sich ein Mittagessen nicht entgehen. Die perfekte Zeit um weitere Tempel anzuschauen. Es ist gigantisch, was Menschen erschaffen können. Wir sind beeindruckt, dennoch reicht uns ein Tag Angkor aus, damit wir keinen Tempel-burnout bekommen.

Zurück in der Stadt fällt mir ein, dass wir noch Geld aus dem Automaten brauchen. Morgen in der Früh geht es mit dem Flieger zurück nach Bangkok.

Einer dieser Geldkästen lauert am Wegesrand, ohne Bankfiliale in Sichtweite. Ich schlage Friedrichs Warnung in den Wind, betrete das Glashäuschen und schiebe die Kreditkarte ins Fach. Der Automat führt mich durch das Menü. "Please wait....", steht auf dem display. Es rattert, aber kein Geld kommt. "Please wait", ratter ratter...kein Geld. "We cannot hand out your credit card, please call the bank".

Da stehen wir nun. Kein Geld, die Kreditkarte im Schlund des Automaten verschwunden, gleich schließen alle Banken. Mein Herz rast, kalter Schweiß fließt aus allen Poren. Ich wähle die Nummer der Bank, die am Automaten fett aufgedruckt ist.

Die Frau am anderen Ende versteht mein Problem nicht. Sie redet so schnell, dass ich, immer noch aufgewühlt, Friedrich mein Handy reiche. Er vergisst die Etikette und brüllt, sie solle langsam und deutlich mit uns sprechen. Scheinbar versteht sie unsere Aufregung nicht. Nichts zu machen, ihr Akkzent ist unverständlich. Wir können kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Friedrich nimmt das Telefon, rennt auf die andere Straßenseite in eine Apotheke.

Gegen Kreditkartenverlust gibt es keine Tabletten, denke ich und bleibe an Ort und Stelle stehen. Der Automat muss bewacht werden. Ich befürchte, dass er manipuliert wurde und gleich jemand auftaucht, um die Karte und das Geld an sich zu nehmen.

In der Apotheke kommen sie mit meinem Smartphone nicht klar. Der Apotheker ruft mit seinem Telefon die Bank an. Wir sollen in die Filiale kommen, die allerdings jeden Moment schließt. Der hilfsbereite Pillendreher organisiert uns ein Tuk-tuk.

Mit mörderischer Geschwindigkeit geht es quer durch Siem Reap. Gerade noch rechtzeitig stürmen wir in den Schalterraum. Man lässt uns zunächst mal warten. Endlich dürfen wir die Vorkommnisse schildern. Dann heißt es wieder warten. Der Tuk-tuk Fahrer leistet uns Gesellschaft. Er muntert uns mit positiver Lebenseinstellung auf. Vermutlich wittert er ein weiteres Geschäft, denn wir müssen ja irgendwann zurück ins Hotel. 40 Minuten vergehen. Alle Angestellten müssen Überstunden machen. Keiner mault. Schließlich erscheint ein Mann mit einer Geldkassette.

Er war zum Automaten geschickt worden, um die Karte rauszuholen. Friedrich muss unzählige Formulare ausfüllen. Es handelt sich um seine Kreditkarte. Am Ende verlangt man seinen Reisepass. Toll, der ist im Hotel. Der Tuk-tuk Fahrer strahlt. Er darf mich ins Hotel chauffieren und gleich wieder zurück in die Bank. Der Pass wird kopiert, man händigt uns die Karte aus, ein Mitarbeiter geht mit Friedrich an den Bankautomat im Gebäude und diesmal kommt nach dem "ratter ratter" Geräusch Geld aus dem Schlitz.

Inzwischen kenne ich den Namen unseres Fahrers. Chivan kann heute seine Familie zum Essen ausführen, denn als er uns in der Pubstreet absetzt, wird er von uns mit einem großzügigen Honorar bedacht. Er hatte nicht nur Geduld beim Warten bewiesen, sondern uns freundschaftlichen Zuspruch gegeben. Wir verabschieden uns wie alte Freunde.

In der Kneipe können wir gar nicht so viel Bier trinken, wie uns Steine vom Herzen fallen. Immerhin handelt es sich um unsere einzige Kreditkarte. Die anderen waren schon Wochen vorher in Vietnam beim Ticketkauf im Internet aus Sicherheitsgründen von der Bank gesperrt worden.

Später kaufen wir gute Schweizer Schokolade und Kinderüberraschungseier, um sie dem engagierten Apotheker als Dank zu schenken. Wir hatten uns nach Thailand gesehnt. Nun sind wir sprachlos über die Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und dem kameradschaftlichen, feinfühligen Wesen der Kambodschaner.

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